Erdnüsse für Haiti? Erdnüsse aus Haiti! Alumni-Story mit Jennifer Esterle

Three toddlers sitting on a bench

KLU-Alumna Jennifer Esterle (MSc Logistics, Abschlussklasse 2012) arbeitet auf Haiti für eine lokale gemeinnützige Organisation, Meds & Food for Kids (MFK), als der Hurrikan Sandy 2012 den Inselstaat trifft. Extreme Regenfälle zerstören die Häuser tausender Familien. Dies ist ihre Geschichte, die Geschichte des Aufbaus von Lieferketten in einer von Armut und Naturkatastrophen betroffenen Region. Jennifer Esterlis Antrieb: Menschen helfen, sich selbst zu helfen.

Im August dieses Jahres forderte ein Erdbeben mehr als 2.200 Todesopfer. Solche Katastrophen bedeuten Not für die Bevölkerung. MFK stellt spezielle Fertignahrung für unterernährte Kinder in Haiti her, verkauft sie vor Ort und exportiert sie nach Westafrika. Jennifer Esterles Vision für arme Länder wie Haiti ist es, die persönliche und berufliche Entwicklung vor Ort durch langfristige humanitäre Entwicklungsprojekte zu ermöglichen.

Jennifer, Haiti nimmt seit Deinem Studienabschluss 2021 an der Kühne Logistics University (KLU) eine wichtige Rolle in Deinem beruflichen und privaten Leben ein. Bitte erzähle uns etwas über dieses Land.

Jennifer Esterle: Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre und damit ein Brennpunkt für humanitäre Hilfe. Darüber hinaus ist das Land politisch sehr instabil. Dies stellt eine Herausforderung dar, wenn es darum geht, Gelder für humanitäre Entwicklungs- und Katastrophenhilfe effizient und verantwortungsvoll einzusetzen.

Ich schätze, das ist vielen bekannt. Was ich jedoch hervorheben möchte, ist das Thema Resilienz, das sich wie ein roter Faden durch meine Erfahrungen in Haiti zieht.

Was verstehst Du unter Resilienz?

Jennifer Esterle: An einem normalen Tag in Haiti ist das Leben hart und von Extremen geprägt: extremes Wetter (Hitze, Regen, Stürme), extreme Armut (80 % Arbeitslosigkeit, sehr begrenzter Zugang zu sauberem Trinkwasser, begrenzter Zugang zu und Verfügbarkeit von Schulen), usw. Der Alltag dort ist hart, und dann kommen auch noch Katastrophen hinzu. Erdbeben (300.000 Tote im Jahr 2010, mehr als 2.200 Tote in diesem Sommer), Wirbelstürme, tropische Stürme, politische Gewalt.

Aber die Haitianer*innen sind widerstandsfähig bzw. resilient. Sie sind anpassungsfähig und innovativ im Angesicht von Katastrophen.  Im Jahr 2010 begann Meds & Food for Kids (MFK) in einer kleinen Kirche mit der Herstellung einer Paste auf Erdnussbasis zur Behandlung von Unterernährung, lange vor dem Erdbeben von 2010. Sie führten diese Paste in Haiti ein, um Kinder zu ernähren. Die Zutaten wurden von lokalen Kleinbauern bezogen und vor Ort verarbeitet.

Nach dem Erdbeben (2012) wuchs das Unternehmen in eine neue Fabrik hinein und wurde zu einem akkreditierten Hersteller von gebrauchsfertiger therapeutischer Nahrung für Unicef für ganz Haiti. Zu diesem Zeitpunkt begann ich direkt nach meinem Studium an der KLU als Supply Chain Manager für MFK. Kurz darauf, im Jahr 2014, wurde MFK zum größten Lebensmittelexporteur Haitis und lieferte Produkte zur Behandlung von Unterernährung nach Lateinamerika und Westafrika. Seitdem hat es viele politische Unruhen, Konflikte und Naturkatastrophen gegeben, aber die Haitianer sind immer noch innovativ und überwinden sie.

Du bist seit fast 10 Jahren im Bereich der humanitären Hilfe tätig. Welche Erfahrung hat Dich auf diesem Weg am meisten geprägt?

Jennifer Esterle: Bei MFK hatten wir im Jahr 2015 etwa 100 Mitarbeitende. Ich durfte erfahren, wie sie durch dieses Projekt über einen langen Zeitraum in ihrem persönlichen und beruflichen Leben gewachsen sind. Das hat meine Arbeit im humanitären Sektor stark beeinflusst, die ich auch in meiner jetzigen Position bei Edesia Nutrition fortsetze.

Bei MFK in Haiti sagte einer unserer Mitarbeiter, dass er gerne in der Erdnussbutterfabrik arbeitete, weil sie wie eine Schule sei. Er lernte, in einer extrem sterilen Umgebung in der Fabrik zu arbeiten und dass Händewaschen hilft, nicht krank zu werden. Und so sagte er: "Das habe ich meiner Tochter beigebracht, und sie ist nicht mehr krank." Das ist für mich ein erstaunlich einfaches Beispiel dafür, wie Projekte nicht nur Arbeitsplätze schaffen können, sondern – was noch wichtiger ist – die Widerstandsfähigkeit der Menschen stärken und ihre Lebensbedingungen zu verbessern.

Ein weiteres Beispiel dafür ist, dass MFK 2013 eine neue, hochmoderne Anlage in einem ländlichen Gebiet außerhalb der Stadt Cap Haitien eröffnete. Kurz darauf begannen die Menschen, dorthin zu ziehen, in der Erwartung, dass die Fabrik Arbeitsplätze bieten würde. Als ich 2018 zu einem Besuch zurückkehrte, fand ich eine ganze Ortschaft vor, die um das Gelände herum gebaut worden war. Und jetzt ist dieses Gebiet eines der schönsten und gepflegtesten Gebiete mit einer Schule und einer Krankenstation. Das hat mir wieder einmal gezeigt: Langfristige Entwicklungsprojekte verändern das Leben der Menschen und ermöglichen eine echte wirtschaftliche Entwicklung.

Was genau war Deine Aufgabe, als Du direkt nach Deinem Studium an der KLU Deine Arbeit bei Meds & Foods for Kids in Cap Haitien begannst?

Jennifer Esterle: Von 2012 bis 2015 war ich für die Leitung der Fabrik in Cap Haitien, Haiti, verantwortlich. Dazu gehörten die Beschaffung von Rohstoffen, das Management des Produktionspersonals und der Erdnussverarbeitung sowie der Vertrieb an unsere Endkunden. Schon bald war ich für das Management der Lieferkette vor Ort verantwortlich.

Die Produktion von Fertiglebensmitteln scheint ein großer Erfolg zu sein. Worauf sind Sie persönlich stolz?

Jennifer Esterle: Als ich Haiti verließ, war ich wirklich stolz darauf, dass es so viele Menschen auf Haiti gab, die gut gerüstet waren, um das Projekt fortzuführen; die Organisation wird jetzt zu 100 % von Haitianer*innen geleitet. Ein Erfolg ohne Nachfolge ist ein Misserfolg.

Heute bist Du Director of Operations bei Edesia Nutrition in den USA ...

Ja, 2015 bin ich zu MFKs US-amerikanischem Partner Edesia Nutrition gewechselt. Bei Edesia stellen wir die gleichen verzehrfertigen Lebensmittel her und liefern sie in über 50 Länder der Welt. Wir arbeiten sehr eng mit einem Netzwerk von acht Produzenten/Fabriken weltweit in den Ländern zusammen, in denen unsere Produkte vertrieben werden, wie MFK in Haiti, Sudan, Madagaskar, Äthiopien und anderen.  Wir unterstützen Länder, in denen die lokalen Produktionskapazitäten nicht ausreichen, und wir liefern in Gebiete, in denen eine lokale Produktion nicht möglich ist. Darüber hinaus konzentrieren wir uns auf Lobbyarbeit sowie Forschung und Entwicklung von RUFs

Im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Edesia eine neue Formulierung des Produkts und arbeitete mit MFK in Haiti zusammen, um die Akzeptanz zu testen.

Was ist Deine erste Erinnerung an Haiti - ein Land, das Dein Leben sehr stark beeinflusst hat?

Jennifer Esterle: Ich erinnere mich, dass ich am Flughafen saß. Es war chaotisch und laut. Ich beobachtete die Menschen und fragte mich, ob sie sich stritten oder lachten. Ich wusste nicht, ob ich in Gefahr war oder ob ich lachen sollte. Es gibt dort eine sehr spürbare Spannung, die sich ziemlich unsicher anfühlen kann. Aber mit den Menschen in Haiti lernte ich mit der Zeit auch ihre lebendige Ausdrucksweise kennen.

Du warst vor Ort, als der Hurrikan Sandy auf Haiti traf?

Jennifer Esterle: Ja, das war 2012, als der tropische Wirbelsturm Sandy Haiti erreichte. Es fing an zu regnen, und dann hörte man plötzlich in der Nacht dieses Krachen. Ich weiß noch, dass ich aufwachte und mein Haus zehn Zentimeter hoch unter Wasser stand, aber wir gingen einfach zur Arbeit. Später am Tag fanden wir heraus, dass es auf dem Hügel hinter unserem Haus wegen des Wassers und der Abholzung einen Erdrutsch gegeben hatte. Es war eine seltsame, surreale Erfahrung, dieser tagelange Regen und die Überschwemmungen. In meinem kleinen Dorf starben etwa zehn Menschen, aber niemand schien es zu bemerken. Aus Verzweiflung legten die Haitianer*innen die Leichen ihrer Angehörigen auf die Straße, bedeckt mit einem Laken, um noch im Regen zu protestieren: "Wir brauchen Hilfe!" Alles, was sie besaßen, war durchnässt und ihre Häuser waren überflutet. Als Passantin baten sie mich, Fotos von ihren verstorbenen Angehörigen zu machen, um sie zu ehren. Es war ehrlich gesagt das Furchtbarste, was ich je gesehen habe.

Niemand in Haiti nannte es einen Hurrikan. Es war einfach ein Regen. Das war eine sehr tragische und bedeutungsvolle Erfahrung für mich. Aber für sie schien es nichts Außergewöhnliches, sondern Teil ihres haitianischen Alltags zu sein. Die Menschen sind daran gewöhnt, dass Regen ihre Städte überflutet, denn in diesem Land mit seinen vielen Bergen gibt es eine massive Abholzung. Die Bäume wurden zu Holzkohle verarbeitet, um kochen zu können.

Wie hat diese bedeutsame Erfahrung Dein Leben beeinflusst?

Jennifer Esterle: Ich spüre eine Verpflichtung, etwas zu tun, um zu helfen. Diese Menschen haben nichts falsch gemacht; sie geben ihr Bestes, um zu überleben, während diese Katastrophen immer wieder über sie hereinbrechen. Dabei ist es purer Zufall, dass sie an einem Ort mit weniger Ressourcen geboren sind als ich.

Was sind die größten Herausforderungen für Sie als Director of Operations bei Edesia Nutrition?

Jennifer Esterle: Es ist hart, die Politik und die Entscheidungsfindung in der Regierung zu beeinflussen. Auch wenn es richtig erscheint, den Haitianern zu helfen, ist es wirklich schwer, die richtigen Leute zu überzeugen, denn jeder hat seine eigene Agenda. Das ist nicht nur in den USA, sondern auch in Haiti der Fall, wo es ziemlich schwierig ist, die Bürokratie der Regierung zu überwinden.

Und welchen Weg hast Du gefunden, um dieser Herausforderung zu begegnen?

Jennifer Esterle: In zwei Worten: extreme Beharrlichkeit. Nehmen wir die MFK-Gründerin, Dr. Patricia Wolff. Ich bewundere sie wirklich. Sie hat mindestens 30 Jahre ihres Lebens diesem Projekt und seinem langfristigen Erfolg gewidmet. Im Vergleich dazu war ich nur drei Jahre lang dabei. Es gibt also kein einfaches Rezept, sondern bedarf einer extremen Beharrlichkeit.

Welche Erkenntnis oder welchen Ratschlag würdest Du gerne mit den heutigen KLU-Studierenden teilen?

Tue etwas, das Dich inspiriert, und sei Dir bewusst, dass Du etwas bewirken und einen sinnvollen Wandel herbeiführen kannst. Es braucht Zeit, aber dran bleiben lohnt sich.

Vielen Dank!

Über Jennifer Esterle
Jennifer Esterle ist Director of Operations bei Edesia Nutrition, einem in den USA ansässigen Partner von MFK in Haiti. Sie ist intern für die strategische Ausrichtung im Sinne einer stabilen Lieferkette verantwortlich, die den Bedarf von Unicef, dem Welternährungsprogramm, USAID und anderen Nichtregierungsorganisationen deckt. Letztere arbeiten vor Ort, um lebensrettende Nahrungsmittel zu den bedürftigsten Kindern der Welt zu bringen.

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