Zurück in die Gegenwart

Von "Forecasting" haben Sie sicher schon einmal gehört. Man sagt, vereinfacht gesagt, die Zukunft voraus. Aber kennen Sie schon „Nowcasting“? In unserer Forschung prognostizieren mein Co-Autor Prof. Kai Hoberg und ich, nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart. Und das funktioniert so:

Von Tim Schlaich und Prof. Dr. Kai Hoberg

Für unsere Untersuchung hatten wir einen Lebensmittelproduzenten als Partner. Er stellt Waren her, die man nicht unbedingt täglich benötigt – sie verweilen relativ lange in den Supermarktregalen, sind sogenannte „Slow Mover“. Diese Produkte, die eher selten verkauft werden, machen bei den meisten Händlern den Großteil des Sortiments aus – wir Kund*innen schätzen ja eine möglichst große Auswahl, auch wenn wir das meiste nicht wirklich täglich benötigen.

Wann kommt die nächste Bestellung?

Erst wenn der Bestand dieser langsamen Güter eine bestimmte Grenze unterschreitet, wenn genug Kund*innen das spezielle Gewürz oder diese eine Sorte Essig gekauft haben, bestellt der Supermarkt Nachschub. Der sollte dann aber vom Hersteller möglichst umgehend geliefert werden. Das führt zu einer kniffligen Situation: je nach Nachfrage kommen die Bestellungen nur sehr unregelmäßig an. Mal liegen Tage, mal Wochen, mal Monate zwischen den einzelnen Bestellungen.

Gleichzeitig kann das Produkt nicht in größerer Stückzahl auf Vorrat produziert werden, sondern sollte im Idealfall erst kurz vor der Bestellung bereitgestellt werden, damit die Produkte im Supermarktregal und bei den Kund*innen eine möglichst lange Resthaltbarkeit haben. Im Idealfall bräuchte es einen möglichst genauen Einblick, wie viel Produktbestand noch im Supermarkt vorhanden ist, damit passend mit der Produktion begonnen werden kann – noch vor der tatsächlichen Bestellung. Diese Information steht den meisten Herstellern aber nicht zur Verfügung.

Nowcasting – Die Gegenwart prognostizieren

Wie kann man nun den gegenwärtigen Produktbestand prognostizieren? Wir haben uns schon vorhandene Daten zu Nutze gemacht: Der Supermarkt erfasst genau, wie viel und welche Produkte täglich verkauft werden. Diese Daten kann unser Hersteller gegen eine Gebühr erwerben. Wir wissen nun, wann unser Hersteller das Produkt zuletzt an den Supermarkt geliefert hat, wie viel Produkte im Supermarkt täglich verkauft werden, und wie viel Zeit unser Hersteller von der ausgelösten Bestellung bis zur Lieferung benötigt. Mit diesen drei Informationen – das zeigen unsere theoretischen und empirischen Untersuchungen – kann der Zeitpunkt der nächsten Bestellung deutlich präziser berechnet werden als mit den statistischen Methoden und Erfahrungswerten, die man bisher dafür eingesetzt hat. Nowcasting nutzt man übrigens auch für die Schätzung der aktuellen Anzahl von Corona-Fällen oder der aktuellen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Unsere Methode lässt sich prinzipiell auf alle Produkte anwenden, für die tagesaktuelle Verkaufsdaten vorliegen und unregelmäßig bestellt werden. Die Vorteile liegen auf der Hand: Durch präzisere Vorhersagen kann unser Hersteller seine Prozesse optimieren, spart Zeit und Geld. Zurück in die Gegenwart – das lohnt sich.

Vollständige Publikation: "When is the Next Order? Nowcasting Channel Inventories with Point-of-Sales Data to Forecast the Timing of Retail Orders" accepted for publication at the European Journal of Operational Research (JOURQUAL A, IF 6.4, ABS 4).