Zukunft der humanitären Logistik

Smiling volunteer with mask and a bag of clothes

Logistik ist unverzichtbar, wenn humanitäre Hilfe geleistet werden muss. Aber wie kann Logistik dafür sorgen, dass humanitäre Hilfseinsätze effizienter, effektiver und umweltfreundlicher werden? Antworten auf diese Frage gab es im März bei zwei wichtigen Events mit Vertreter*innen des Center for Humanitarian Logistics and Regional Development (CHORD), das von der KLU und HELP Logistics gemeinsam getragen wird.

Prof. Dr. Maria Besiou, Forschungsdekanin an der KLU und Akademische Leiterin am CHORD, sprach am 22. März 2022 auf dem European Humanitarian Forum. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Europäischen Kommission und Frankreich im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft. Jonas Stumpf, Director of Global Programs bei HELP Logistics und Operations Manager bei CHORD, nahm am 17. März 2022 in Dubai anlässlich des 6. International Humanitarian City (IHC) Members Global Meeting am Runden Akademischen Tisch teil.

Logistik schlägt die Brücke zwischen Bedarf und Versorgung. Wie sieht Ihre Vision einer Logistik für den humanitären Bereich aus, Maria?

Maria Besiou: Erstens müssen wir damit aufhören, Katastrophenhilfe und Entwicklungsarbeit separat zu betrachten. Weniger entwickelte Länder sind von Katastrophen nach wie vor stärker betroffen. Daher sollte Katastrophenhilfe Hand in Hand mit einer nachhaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung gehen. Zweitens sollte man in Ländern, die besonders anfällig für Katastrophen sind, solide Zugangsmöglichkeiten, also Flughäfen und Häfen, sowie Straßennetze, Lagerhäuser und die entsprechende Infrastruktur schaffen, bevor der Katastrophenfall eintritt. Nur dann ist schnelle Hilfe möglich. Drittens stelle ich mir eine Stärkung des lokalen Markts und professionelles Personal vor Ort vor, das erreicht man dort durch Bildung und Ausbildung, also eine Lokalisierung. Und zu guter Letzt umfasst meine Vision, dass die Ressourcen im Bereich der humanitären Hilfe stärker geteilt werden und dass man genauer analysiert, welche Modelle sich für welche Szenarien am besten eignen. Wer leitet den Hilfseinsatz? Wer profitiert davon und in welchem Maße?

Was war Ihre Schlüsselbotschaft in Dubai, Jonas?

Jonas Stumpf: Die gute Nachricht ist, dass Logistik und Supply-Chain-Management im humanitären Kontext endlich die Wertschätzung erfahren, die sie verdienen. Über 80 % der ca. 500 Expert*innen, die wir letztes Jahr im Rahmen einer CHORD-Studie befragt haben, bestätigen, dass Lieferketten und Logistik für ihre Organisation eine wichtige Rolle spielen. Dieser Trend wurde sicher durch die Corona-Pandemie verstärkt, in der die Störungen der Lieferketten für viele von uns plötzlich deutlich spürbar waren. Aber wir haben bereits davor festgestellt, dass die Lobbyarbeit von HELP Logistics, dem Global Logistics Cluster und anderen Institutionen sich allmählich auszahlt.

Spiegelt sich diese veränderte Sichtweise bereits in einem neuen, stärkeren Fokus der Organisationen auf effiziente und nachhaltige Lieferketten wider?

Jonas Stumpf: Tatsächlich kommen wir hier zur weniger guten Nachricht … Die neue Wertschätzung allein wird nicht ausreichen, um die enormen Herausforderungen zu meistern, vor denen der Sektor in dieser Zeit steht, in der der Bedarf an humanitärer Hilfe immer stärker zunimmt und bei Weitem nicht immer befriedigt wird. Für die Jahre 2020 und 2021 weist das Finanzüberwachungssystem des Amts der Vereinten Nationen für die Koordination Humanitärer Angelegenheiten (OCHA) eine Finanzierungslücke von 50 % aus, was in etwa einem ungedeckten Bedarf von 19 Milliarden US-Dollar pro Jahr entspricht.     

Wie können Logistik und Supply Chain Management dabei helfen, diese Lücke zu schließen?

Maria Besiou: Man muss zwei grundlegende Aspekte verstehen, um die Finanzierungslücke im Bereich der humanitären Hilfe zu schließen. Erstens entfallen drei Viertel der Gesamtausgaben auf die Lieferkette. Das hat unsere neueste Ausgabenstudie zu humanitären Hilfseinsätzen, die von fünf Organisationen in zwölf Ländern im Zeitraum von 2005 - 2018 durchgeführt wurde, gezeigt. Im Rahmen einer anderen Studie haben wir analysiert, wie sich Investitionen zur Stärkung der humanitären Lieferkette rentieren. Dabei haben wir herausgefunden, dass es zu einer enormen Kosten- und Zeitersparnis führt, wenn man die Investitionen früh genug tätigt, also bevor der Katastrophenfall eintritt, und wenn man intelligent und umfassend investiert. Konkret gesagt: Jeder Dollar, der bereits im Vorfeld investiert wird, kann sieben Dollar während des Hilfseinsatzes einsparen. Und, was vielleicht noch wichtiger ist: Die Reaktionszeit verringert sich um mehr als die Hälfte!

Folglich müssen alle Stakeholder, also Vertreter*innen aus dem humanitären Sektor, dem Privatsektor, dem öffentlichen Sektor und der akademischen Welt, zusammenkommen, ihr Wissen teilen und sich über ihre Praktiken austauschen, um einen ganzheitlichen Ansatz für das humanitäre Hilfssystem und seine Lieferketten zu entwickeln. Wir müssen versuchen herauszufinden, wie wir am besten positiv und nachhaltig Einfluss nehmen können, um kurzfristig mehr Leben zu retten und langfristig Abhängigkeiten und Umweltschäden zu vermindern.  

 

Was kann die akademische Welt tun, um diese Bestrebungen zu unterstützen?

Jonas Stumpf: Wer auf diesem Feld forscht, sieht sich oft mit dem Vorwurf konfrontiert, er oder sie stelle keine wirkungsvollen Lösungen bereit und schaffe daher keinen Mehrwert. Und ganz sicher gibt es da im akademischen Sektor viel Luft nach oben. Eine bessere Kenntnis des lokalen Kontexts, ein stärkerer Fokus auf Felder, die dazu beitragen können, Leben zu retten und die Lebensqualität zu erhöhen, und eine engere Zusammenarbeit mit den Akteuren im humanitären Bereich sind nur einige Strategien, die man prüfen sollte.

Allerdings ist das Ganze keine Einbahnstraße. Wer im Feld arbeitet, sollte seine oder ihre Bedürfnisse klarer zum Ausdruck bringen und sich darum bemühen, Lösungsvorschläge aus der Theorie auf die Praxis zu übertragen. Hierfür kann das Journal of Humanitarian Logistics and Supply Chain Management eine ideale Plattform bieten. Es gibt dort eine spezielle Rubrik, in der im Feld Tätige ihre Ansichten zu sektorspezifischen Problemstellungen und Lösungen teilen können. HELP Logistics und Emerald Publishing haben eine Sponsorship-Vereinbarung für drei Jahre getroffen, sodass das Journal ab 2023 komplett frei zugänglich sein wird. 

 

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